Hermann Nitsch | Kritzelzeichnung | Bleistift auf Papier | 22,5x29,6 cm | 1959-61

Hermann Nitsch | Kritzelzeichnung | Bleistift auf Papier | 22,5x29,6 cm | 1959-61

Hermann Nitsch | Kritzelzeichnung | Bleistift auf Papier | 22,5x29,6 cm | 1959-61

Zeichnung

die nachahmung, das abbilden der natur haben wir abgelegt. über das abstrakte gestalten sind wir zur anwendung des konkreten und der wirklichkeit der materiellen farbsubstanz gelangt. die sinnliche erregung des malers ist gefragt. das wachrufen des dionysischen, des unbewussten seismographiert den organischen schöpfungsexzess. der biss des raubtieres wird den malern abverlangt. das intensive erleben des dionysischen ist zerstörung und aufbau gleichzeitig. wie der big bang, die mythische zerreissungssituation des gottes dionysos, wie der grundexzess, der sich im mythischen leitmotiv des o.m. theaters abbildet.

der bleistift des kindes (ver)sucht zu kritzeln, irgendwie von der zivilisation geheiligte dinge werden bekritzelt, geschändet. etwas womit man schreiben und zeichnen kann wird in seiner grundsätzlichsten form verwendet. etwas färbt ab, beschmutzt, befleckt. eine kosmische unschuld versucht (blind) tastend spuren zu lassen. dies kann auch aggressiv geschehen. das bekritzelte wird unrein, verunreinigt. verdrängte zurückgehaltene triebbedürfnisse bringen sich zur anschauung. etwas wie das verbotene kotschmieren, der ausbruch zur kritzelnden verunreinigung (noch gar nicht als solche erkannt) ergibt sich. die urform des schöpferischen, nicht nur in künstlerischer hinsicht, ereignet sich. der kosmisch schöpferische akt, die verwirklichung dessen, das lebendig ist, wird vollzogen.  jener impuls, der sonnen gebären und milchstraßen entstehen lässt, kosmen aufwuchtet und im sinn der ewigen wiederkehr wieder verschwinden lässt, vollzieht sich.

mein kritzeln versucht tief ins sein einzudringen, in die grundlosigkeit (ohne beginn und ende), in den grundexzess. ein totaler, weitgehender automatismus wird angewendet. über die gestik seismographiert sich die triebsituation des unbewussten.

anregungen verdanke ich arnulf rainer, dessen in den 1950er jahren herausgegebenes
TRR manifest hat mich sehr beeindruckt. seine radikale abwendung von aller traditionellen malerei führte ihn zu buddhistischen gedankenfeldern. seine zentralgestaltungen und seine blindmalerei haben mich angeregt zu meinen ersten kritzelzeichnungen in den
1960er jahren.

beeinflusst haben mich affenzeichnungen. hier ist vorerst die unbedingte abwesenheit von kunst vorausgesetzt. hier versucht ein tier zu kritzeln. (kulturblind) wird getastet in richtung von etwas offenem, in ein vakuum, in einen abgrund. ein stift, eine kreide befleckt etwas, das tier ist unbedingt entwunden etwas zu malen, etwas passiert. die tierheit sucht vielleicht sogar gezwungenermaßen etwas zu tun, was uns allen nicht bewusst ist. das tier wird konfrontiert mit etwas, das nichts bewirkt. wie etwa zwei stollen, die einen tunnel bilden sollen, sich aber nicht treffen. vielleicht sucht der affe etwas mit seinem zeichnen was uns verschlossen bleibt. hinter dem geheimnisträchtigen gekritzel verbirgt sich vielleicht der allen unbewusste beginn der kunst. vielleicht setzt das tier an zu etwas, das uns alle überwindet und woanders hinführt.

der wesentliche schöpferische akt ist gegründet im zeitlosen, im anfang und endlosen, im unendlichen abgrund, in der unendlichkeit, der raumlosigkeit, der leere. wenn man sich trennt von vergangenheit und zukunft und man im augenblick lebt. den augenblick des schöpferischen ereignisses erlebt, wirkt man aus dem zeitlosen grunde (der ursachelosigkeit) der istigkeit. wird die tatsache, dass IST vertieft bis zu jener kritzelnden anfang- und endlosigkeit. die zeichnerischen √wurzelziehversuche der kritzeleien wollen exzessiv den schöpferischen akt aus der istigkeit holen und in die intensivierung der istigkeit bringen.

(2018)