Hermann Nitsch, Architekturzeichnung, Kugelschreiber und Filzstift auf Papier, 1974

Grafik

1965 begann ich damit, die räume, in welchen sich mein 6 tage spiel ereignen soll, selbst zu entwerfen. ich plane, in prinzendorf an der zaya für alle aktionen, die nicht im freien und nicht in den räumen des schlosses durchgeführt werden, ein unterirdisches theater zu bauen. die uterale dunkelheit von unterirdischen gängen und raumanlagen, wie überhaupt das geborgene vegetative leben im lichtlosen mutterleib, übt auf mich eine grosse anziehungskraft aus. im unterreich, im grab, in der erde ereignet sich der keimende todesschlaf.
der analytische abstieg in unbewusste vegetative bereiche, den meine aktionen anstreben, hat nun seine tatsächliche entsprechung durch räumliche, architektonische gegebenheiten. es wird in erdhöhlen, in katakomben, in grabkammern hinabgestiegen. beim zeichnen der theateranlage merkte ich sehr bald, dass eine wechselbeziehung zwischen aktion und architektur entstand. die jeweilige art der aktionen beanspruchte eine bestimmte beschaffenheit von räumen, und umgekehrt verlangten verschiedene räume und gänge bestimmte aktionen. die beiden medien architektur und aktion beeinflussten einander, forderten einander heraus.
der architektonische teil meines theaterprojektes ist noch nicht abgeschlossen, ich arbeite ständig daran, eine fülle von entwürfen entsteht, aus welcher ich die besten für die realisation auswählen möchte. auch zeichne ich ständig, um mich zu neuen aktionen anregen zu lassen.
weil dem aktionismus zwangsläufig grenzen der realisation gesetzt sind, entstanden aktionskonzepte, aktionspartituren, die wahrscheinlich nie aufgeführt werden. der aktionismus hat sich in richtung konzeptkunst ausgeweitet. die frage nach der realisation ist vorerst nicht wesentlich, die gestaltung kann frei wuchern und alle grenzen durchbrechen, das entwerfen von aktionsdramen, die sich in eigens dafür konzipierten unterirdischen städten ereignen, und die eine aufführungsdauer von mehreren wochen benötigen, ist möglich. die meisten meiner zeichnungen zeigen grundrisse unterirdischer raum- und weganlagen. die räume und wege bleiben, nachdem sie in das erdreich oder ins gestein hineingegraben wurden, entweder unverputzt oder werden mit beton ausgekleidet. (1976)

es soll nicht geleugnet werden, dass sich oft das zeichnen meiner architekturprojekte von der praktischen realisation entfernt, vor allem, weil sich diese architekturphantasien finanziell schwerstens realisieren lassen. die zeichnung, die ästhetik der zeichnung, wird selbstzweck. ich denke an nicht realisierte projektzeichnungen von michelangelo, leonardo, palladio und den barockarchitekten bis herauf zu otto wagner. der raumsuchende zeichenstift findet eine vom projekt und von der realisation losgelöste sinnlichkeit, die spezifische ästhetik des zeichnerischen unterfangens beginnt den entwerfer zu berauschen und zu verführen. die dargestellten unterirdischen gänge ins fleisch der erde verlangen auch, dass sich die erde übermittelt. informelle strukturen des befleckens, des beschmutzens, des besudelns werden über die strengen unterirdischen gebilde bedruckt. ich freue mich, dass vom projekt ausgehend die zeichnung selbstzweck geworden ist. trotzdem weisen diese entwürfe auf durchaus mögliches hin. die vielzahl der in verschiedenen farben übereinander gedruckten stockwerke ist möglich und realisierbar, wenn uns auch die dichte und weiträumigkeit des geplanten ratlos macht.
meine aktionen erfordern extremste sinnlichkeit. das von innen nach aussen kehren psychischer und leiblicher gegebenheiten ist leitmotiv des o.m. theaters, die beschauung feuchter, blutfeuchter innerer organe ereignet sich ständig. gekröse und gedärme werden freigelegt, das vegetativ-kreatürlich mensch gewordene ereignis unserer gattung demonstriert sich ständig. in diesem sinn flissen immer wieder organische formen in meine architekturzeichnungen ein. das ganze, alle entwicklungsstatdien des naturereignisses mensch, soll zeichenhaft in diese wuchernde architektur einfliessen. deshalb immer wieder strukturen von gedärmen, nieren und leberformen, menschlichen und pflanzlichen organformen. die manieristische ausweitung meines theaterprojektes macht es vorstellbar, dass meine aktionen sich in einer architektur ereignen, durch die nicht nur einzelne organe, sondern der ganze menschliche körper zu räumen umgebildet werden, das vorerst eher abstrakt organformationen verwendende zeichnen führte dazu, dass ich nun tatsächlich architektonische gebilde entwerfe, die gegenständlich ganze körper nachbilden oder darauf bezug nehmen. […] (1987)