Schriftstück von Hermann Nitsch über die Gesamtkonzeption des Orgien Mysterien Theaters

63. Aktion in Trieste, 1978; ©Fondazione Morra

Nitsch bei einer Orgelprobe

Publikationen

die theorie zu meiner arbeit ist einerseits ein wesentlicher bestandteil um sie tiefer zu verstehen, andererseits ist sie aber keine erklärung meiner kunst. erst nachdem meine arbeit über die form ihres (verbal nicht erklärbaren) wesens begriffen wurde, kann meine theorie durch analytisches reflektieren das verständnis meiner kunst bereichern. meine kunst illustriert nicht philosophische tatsachen, sie findet sie vor. meine kunst läuft in den bahnen der philosophie, ist in diese eingebettet. die nützlichkeit meiner kunst bestätigt diese philosophie. meine kunst gebiert die philosophie des seins.
meine arbeit, mein orgien mysterien theater ist ein instrumentarium, sie entspricht einer maschine. eine dramaturgie muss angewandt werden, die oft einem psychoanalytischen prozess gleicht. sinnliche erlebnisprozesse müssen eingeleitet werden. therapeutische vorgänge müssen in gang gebracht werden. kathartische abreaktionsvorgänge werden bewirkt werden. die methodik der synästhesie soll dargelegt und erklärt werden. ebenso das system der partitur, auch das aufgreifen von kollektiv psychischen mythischen tatsachen will geordnet und erklärt werden. wagner ging mit mythischen phänomenen anders um, als dies freud, jung und ihre nachfolger tun. die gänzlich andere behandlung der mythen durch das orgien mysterien theater mag das mystische leitmotiv des o.m. theaters veranschaulichen.

nochmals: alle meine theoretischen schriften erhellen den umgang mit meinem werk, für den der es bereits verstanden hat. sie vertiefen nochmals das gesamte ansinnen seinem wesen nach. vielleicht umreissen meine schriften das wollen meines werks vollkommener als dieses selbst imstande ist es zu bewirken. vielleicht schiesst die theorie über die praktische wirkung hinaus oder – im idealfall wird die verwirklichung des o.m. theaters durch die theorie vorangetrieben. (2019)

als ich 1958 meine ersten erstzunehmenden partituren niederzuschreiben begann, hielt ich mich selbst für verrückt oder zumindest für unrealistisch. obwohl ich auf lange sicht an die zukunft dieses theaters glaubte, dachte ich an keine aufführungsmöglichkeit. oft befürchtete ich, nie eine aufführung dieses theaters erleben zu können. als es mir dann doch gelang, nach und nach mehr oder weniger unzugägnlich, zuerst zögernd meine vorstellungen zu verwirklichen, war ich immer erstaunt wie sehr meine partituren die wahrheit sprachen. ich war glücklich, sie verwirklicht zu sehen und dies gilt sowohl für den optischen wie auch den akustischen bereich, als ich die ersten gelungenen realistationen sah, konnte ich erkennen: es stimmt alles. oft war es „in wirklichkeit“ noch schöner als ich es mir gedacht hatte. in london, 1966, als ich erstmals meine lärmmusik hörte war ich überglücklich. als ich in bologna 1977 zum erstem mal meine musikalischen vorstellungen von einem wirklich guten orchester verwirklicht hörte, war es für das requiem für meine frau beate. ein trauriger ernst brachte meine musik in die nähe von kosmischem jubel. beate hat mir wie immer geholfen (diesmal von woanders her). in diesem sinn ist die partitur jeder dokumentation überlegen. wer genug phantasie und einfühlungsgabe hat, muss sich durch das lesen der partitur eine aktion vergegenwärtigen können. (1979)