100. aktion6-tagespiel in prinzendorf 1998; Foto: Archiv Cibulka-Frey

100. Aktion

3.8.1998

Schloss Prinzendorf, Prinzendorf

6 Tage

alle meine bisherigen künstlerischen aktivitäten gelten als vorbereitung für das 6-tage-spiel. das von 3. bis 9. august in prinzendorf stattfindet. beim o.m. theater handelt es sich um eine wirklich neue form von gesamtkunstwerk, welches sich aus der happening- und aktionskunst entwickelt hat. kein schauspieler spielt eine rolle. (1998)

Auszug aus der Presseerklärung:

Hermann Nitschs Idee zu einer sechs Tage und sechs Nächte dauernden Aktionsarbeit geht bis auf das Jahr 1957 zurück. Der damals mit dem Medium Literatur arbeitende Künstler konzipierte unter Einfluß der Gesamtkunstwerksbestrebungen eines Richard Wagner und Alexander Scriabin sein synästhetisch ausgerichtetes, das heißt alle fünf Sinne beanspruchendes Aktionstheater: das Orgien Mysterien Theater.

Die Länge steht in Analogie zur Schöpfungsgeschichte und versteht sich als Erweiterung aller monumentalen Kunstwerke. Alle seitdem, also seit den frühen sechziger Jahren und seit 1975 in Prinzendorf durchgeführten Aktionen des O.M. Theaters müssen als Teilverwirklichungen dieses Sechstagespiel verstanden werden.

Unter den verschiedentlichen Ansätzen der Kunstgattung Happening, Aktion und Performance kann das Sechstagespiel wohl als umfangreichste Realisierung angesehen werden. Hermann Nitsch: „alle meine bisherigen künstlerischen aktivitäten gelten als vorbereitung für das 6-tage-spiel. das von 3. bis 9. august in prinzendorf stattfindet. beim o.m. theater handelt es sich um eine wirklich neue form von gesamtkunstwerk, welches sich aus der happening- und aktionskunst entwickelt hat. kein schauspieler spielt eine rolle.“
Das Wesen von Nitschs gattungsüberschreitendem Vokabular, das sowohl Malerei, Musik und Theater einbezieht, ist das Inszenieren realer Geschehnisse. Die Ästhetisierung reicht bis ins tägliche Leben, bis ins gesellschaftliche Zusammensein, bis zu Essen und Trinken. Die Seinszustände des Lebens sollen in ihrer Polarität zwischen höchstem Glücks- und höchstem Verzückungszustand, dem rauschhaften Sich-Ereignen des Seins und dem tiefsten Abgrund, dem Ekel, der bestialischen Zerstörungswut dunkelster Triebe gezeigt werden. Diese dem Menschen innewohnende Widersprüchlichkeit wird in aller Drastik aufgezeigt, dem Verdrängungsmechanismus der Wohlstandsgesellschaft wird in einem Fest, das an alle Sinne gerichtet ist, die Intensität sich ereignenden Lebens entgegengehalten.

Schauplatz des Sechstagespiels
Das Orgien Mysterien Theater ist eine künstlerische Bestrebung. Neben dem visuellen Formgedanken spielt die Musik eine wesentliche Rolle. Der Grundkonzeption des Spielablaufes liegt ein sinfonischer Gedanke zugrunde.
Schauplatz der Aktion ist die Schloßanlage in Prinzendorf mit all ihren Räumlichkeiten sowie der umliegenden Landschaft des niederösterreichischen Weinviertels.

Die Natur und ihr Ertrag sind authentischer Ort und Gestaltungsmittel der Aktion. Der sonnenüberstrahlte Himmel und der Sternenhimmel überdachen das sechstägige Aktionsgeschehen. Die weinbewachsene, hügelige Landschaft und ihre Felder ersetzen die Bühne. Der Schloßhof, der Weinkeller, die Stallungen – das sind die Schauplätze des Geschehens. Reale Handlungen, die zu ästhetischen Aktionabläufen verdichtet werden, ersetzen das gesprochene Wort und die eingeübte, lediglich symbolisierende Handlung des klassischen Theaters.

Im Rahmen dieser Handlungen ist zur Demonstration der Abgründigkeit des realen Lebensablaufes auch geplant, am ersten, dritten und fünften Tag des Sechstagespiels eine Schlachtung an je einem Stier vorzunehmen. Nitsch:

„eine psychoanalytisch orientierte dramaturgie lässt das dionysische aus uns ausbrechen. verdrängte triebbereiche – und darüber hinaus unsere gesamte natur – werden anschaubar gemacht. die aktionen mit fleisch, blut und geschlachteten tieren loten kollektivbereiche unseres unbewussten aus. alle 5 sinne werden aktiviert und sensibilisiert. essen und trinken, die berauschung, sind bestandteil des spiels.“
Die Aufnahme eines solchen Ereignisses in das Spielgeschehen der Aktion versteht sich weder als Anklage, noch als Verherrlichung derartigen Verhaltens, sondern lediglich als Anschaubarmachung dessen, was hinter alltäglichen Aspekten menschlichen Zusammenlebens, etwa der Nahrungsversorgung, steckt. Kein Tier wird wegen dem Sechstagespiel geschlachtet; bei den vorgenommenen Schlachtungen handelt sich lediglich um eine Verlegung des Ortes der Schlachtung vom Schlachthaus in die Schloßanlage.

Das Raubtier Mensch muß Lebewesen töten, um in den Genuß fleischlicher Nahrung zu gelangen, und ist es der getöteten Kreatur schuldig, sich dieses Umstandes bewußt zu sein, statt sich mittels hygienischer Portionierung und Verpackung darüber hinwegzutäuschen. Dieser Aspekt ist nicht das Hauptanliegen des O.M. Theaters. Nitsch sieht darin nur eine der zahlreichen Stationen auf dem Wege einer Bewußtmachung realer Umstände, den erstern Schritt einer Veranschaulichung, wenn man gegen Massentierhaltung, Tötung unter den für die Kreatur widrigsten Umständen, also aus reiner Profitsucht, und gegen die vorsätzliche Manipulation von Futtermitteln für Tiere, deren Stoffwechsel auf vegetarischer Kost aufbaut, vorgehen will.

Die für das Sechstagespiel verwendeten Stiere stammen aus einer verantwortungsbewußten Tierhaltung. Vieles, wie beispielsweise ein verabscheuungswürdiger Transport, die kaltblütige Verweigerung beruhigender Mittel unmittelbar vor der Schlachtung, auf die zugunsten der Güte des Fleisches verzichtet wird, bleibt diesen Tieren erspart.
Sie sterben auf eine ihren Tod – der Basis des Weiterlebens des Menschen ist – würdigende Weise. Die Spielteilnehmer respektieren ihren Tod, indem sie sich der Umstände ihres eigenen Lebens bewußt werden, indem sie das Fleisch des Tieres zubereiten und verzehren.

Nicht die Tatsache der Tierschlachtung als Bestandteil des Sechstagspiel des Orgien Mysterien Theaters, sondern gerade die aus der Verdrängung derartiger Mechanismen, dem Wegschauen angesichts notwendiger Handlungen erwachsende Verlogenheit ist es, die umweltbewußten Menschen aufstoßen sollte. Nitsch:

„das drama soll sich zum volksfest ausweiten. exzessive ereignisse stehen meditativen zuständen gegenüber. eine bejahung unserer existenz, unseres lebens und unserer schöpfung soll tiefster sinn und zweck des festes sein. angestrebt wird eine intensive seinsbejahung, welche das ich zum selbst werden lässt. durch seinsmystik entsteht das permanente lebensfest.“
Materialien des Spiels
Die Partitur des Sechstagespiels umfaßt 1.595 Seite und liegt gedruckt in zwei Bänden der Edition Freibord vor. Die Umsetzung der Partitur wird von Mitte Juli an 21 Tage lang in Prinzendorf von 100 Akteuren und 180 Musikern für die 1.000 erwarteten Spielteilnehmer (Gäste) geprobt.

Welche Bedeutung Nitsch der Musik seines Sechstagespiels zumißt, läßt sich aus der Liste der Mitwirkenden ersehen: 60 Holz- und Blechbläser, 20 Streicher, 30 Schlagzeuger (Kleine Glocken, indische Glocken, Kuhglocken, Trommeln, Becken, Pauken, Ratschen, Trillerpfeifen, große Gongs), zwei Blasmusikkapellen, ein Streichquintett, mehrere Heurigenmusikgruppen, eine Choralschola singt Gregorianik, ein gemischter Chor, ein Synthesizer. Für fünf Kirchenglocken wurde im Hof des Schlosses ein eigener Kirchenstuhl errichtet.

Tag und Nacht werden frische Speisen gereicht. Neben einer Großküche, die die Hauptmahlzeiten in Form regionaler Gerichte auftischt, gibt es eine Laienküche, in der Freunde des Künstlers ihre Spezialitäten als kleine Zwischenmahlzeiten zubereiten. Auf der westlichen Seite des Hofes wird ein permanentes Labor eingerichtet, in welchem Gerüche (Gewürze, Geruchsessenzen) und Geschmacksproben registiert werden. Die Geruchs- und Geschmacksmotive sind synästhetisch auf die Aktionen bezogen. Für die in der Partitur geforderte rauschhafte und ungehemmte Freude stehen übrigens 13.000 Liter Wein zur Verfügung.

Als Aktionsmaterialien des Sechstagespiels finden unter anderem 1.000 Kilo Tomaten, 1.000 kg Trauben, 10.000 Rosen, 10.000 weitere Blumen sowie 1.000 Liter Blut Verwendung. Schweine und Schafe werden von einem fleischverarbeitenden Betrieb bereits geschlachtet angeliefert. Zusätzlich werden drei Stiere, deren Fleisch für die Verzehr weiterverarbeitet wird, in drei Hausschlachtungen unter veterinärmedizinischer Aufsicht von professionellen Metzgern geschlachtet.

Für die szenischen Vorgänge wurden 60 Tragbahren, 15 Holztröge und 100 Schreine gezimmert. Mehr als 10.000 Meter Leinen finden in den Malaktionen des zweiten Tages Verwendung. Akteure und Musiker werden während der Aufführung in 500 Ritualhemden und ebensoviele Hosen gekleidet. Für die nächtlichen Fackelzüge stehen 5.000 Fackeln zur Verfügung. Als Großgerät kommen am fünften Tag des Festes zwei Panzerfahrzeuge zum Einsatz.

Organisation des Sechstagespiels
Künstlerische Leitung und Gesamtleitung: Hermann Nitsch
Organisationsleitung: Rita Nitsch
Verein zur Förderung des O.M. Theaters, A-2185 Prinzendorf, Schloß 1 Deutscher Vorstand: Wolfgang Wunderlich†, Friedrich Rein, Helmut Rieger
Österr. Vorstand: Rudolf Schmutz†, Otto Breicha†, Elisabeth Geymüller, Franz Glück
Sekretariat: Thomas Gimesi, Sabine Reiter-Haydl
Regie: Alfred Gulden
Spielkoordination: Herbert Gadenstätter, Paul Renner, Leo Kopp
Regieassistenz: Daphne Elektra Tsukalas
Persönliche Assistenz des künstlerischen Leiters: Giuseppe Zevola, Andrea Cusumano
Wissenschaftliche Beratung: Hanno Millesi
Kunsthistorische Beratung: Othmar Rychlik
Requisite: Michael Riedl, Hanno Millesi, Martine Schneider-Speller
Musikalische Gesamtleitung: Clemens Gadenstätter
Dirigenten: Simon Pironkoff, Thomas Platzgummer
Leiter der Choralschola: Peter Kubelka
Musikagentur: Pro Art – Alexander Kirscher
Glockenstuhl: Arno Hey
Fotodokumentation: Heinz Cibulka
Videodokumentation: Cosmos Factory – Peter Kasparak, Rolf Leitenbor
Tontechnik: Gary Todd
Presse: Wolfgang Koch, Ursula Breitenfelder, Heidi Spacek
Großküche: Sarah Wieners‘ Tracking Catering
Probenküche: Andreas Reichhof
Hausküche: Veronika Immervoll
Informationsbüro: Andrea Jünger
Medizinisches Zentrum: Günther Fischer, Alberto del Genio, Leopold Kramer, Adelheid Marschang, Michael Mignon
Technik: Harry Immervoll, Andreas Weixler
Haustechnik: Jan Zugarec
Wäscherei: Anna Zugarec
Kartenverkauf: Lomographische Gesellschaft (Matthias Figl, Wolfgang Stranzinger, Susanne Tobeiner)
Internet: ARGE DATEN – Hans G. Zeger, Erich Moechel
Sponsoren: Blumenhandlung Josef Neuhauser, Francesca Cozzo, Druckerei Riegelnik, Druckerei Stiepan, Heuriger Ernst Mohrenberger, Margund Lössl, Peppe Morra, Galerie Heike Curtze, Heuriger Werner Welser, Möbel Wittmann